Dort. Medeamorphosen I (Glengreen)

Frankfurter Allgemeneine Zeitung, 2.7.1994

Das Publikum sehnt sich nach Eis
Jörg Laues szenische Skulptur mit tropfendem Wasser und Musik in der Universität

"Alles fließt": Heraklits tiefsinnige Sentenz über die Beschaffenheit des Seins konnte in der Szenischen Skulptur für zwei Performer, Solovioline und Streichquintett "Dort. Medeamorphosen I (Glengreen)" von Jörg Laue unmittelbar nachvollzogen werden. Der Bewußtseinsstrom genuschelter Texte von Heiner Müller, die multimedial in einer Art Tonbandschleifenbewegung vervielfacht wurden, traf auf den Schweißperlenfluß des Publikums im überhitzten Theatersaal des Studentenhauses der Universität.
Die recht originelle Idee, vier Lote aus gefrorenem Wasser dräuend und tauend vom Schnürboden in den abgedunkelten Raum herabhängen zu lassen, verkehrte sich gar zum Eigentor. Statt das Naßwerden der Schauspieler - stellvertretender, ritualer Opferakt und theatralisches Martyrium - als quasi religiöse Ersatzhandlung mitzuerleben, wurde ein schlagwortartiger Gedanke zur Obsession: Eis! Was da vorn auf der Bühne Tröpfchen für Tröpfchen den Aggregatzustand wechselte, transformierte sich in der Phantasie des Zuschauers zu zartem Schmelz, zum Eis-Klassiker Schoko mit Vanille - eine verheißungsvolle Utopie. Einzig die beiden Schauspieler (Nikola Duric und Dominique Yachmi), allmählich unter dem Eiswasser naß werdend, waren um diese Erfrischung zu beneiden. "Wer spricht, setzt sich Kälte und Nässe aus", orakelte Jörg Laue, Gießener Absolvent des Studiums der Angewandten Theaterwissenschaft, in der Pressemitteilung. Daraus sprach eine tiefe Wahrheit, denn all denen, die während der 60 Minuten dauernden Prozedur nicht sprachen, also den Zuschauern, war es zu heiß. Dennoch waren diese Schweigenden naß, schweißnaß.
Weiter hieß es in der Ankündigung: "An den Körpern kleben Kleider." Auf und vor der Bühne - ungewollte Dialektik. Und wie sehr wäre eine prickelnde Entmüdungsdusche, wie sie die vier Eislote im installierten Strafraum boten, vonnöten gewesen.
Denn das Wichtigste fehlte in Laues Additionsstück an diesem Theaterabend: die Gänsehaut vor Begeisterung. Von kalten Schauern über den Rücken ganz zu schweigen. Mit der Verneinung von Handlung, der Reduzierung der Mittel auf möglichst archaische Stufen, die Sprache durch gewollte Textunverständlichkeit ihres Wortsinns beraubten, verfing sich Konstruktivist Jörg Laue in den Stricken der eigenen Arbeitsfalle. Gerade wer sich auf Müllers mit Pathos überladene Sprache einläßt, sollte auf Textverständlichkeit setzen. Dieses Pathos ist da, um ausgestellt zu werden. Streicherakkorde, aus dem Foyer übertragen, häuften unnötig noch mehr Überflüssiges auf.

Achim Heidenreich