falls (LAST/Trilogie 1)

Dresdner Neueste Nachrichten, 4.9.1999

Der Fall Ikarus - ein dekonstruktives Traumspiel
Homo Ludens: Berliner Lose Combo gastiert mit der Performance "falls" im Societätstheater

Im Rahmen von "Homo Ludens" (Der spielende Mensch) stellen seit Donnerstag zehn Künstler im und um das Societätstheater ihre in vierwöchiger Arbeit entstandenen performativen und interaktiven Projekte vor. [...]
Auf der großen Bühne stellt die Lose Combo (als Gast der Coopera-Werkstatt) den ersten Teil einer Performance-Trilogie vor. Exemplarische Geschichten aus Ovids "Metamorphosen" werden als performative Skizze aus Sprache, Livemusik, Gesang, Ton- und Videobändern inszeniert. Der erste Teil dieser Trilogie nimmt Anleihen beim Ikarus-Mythos und heißt "falls". Der zunächst fast dunkle Zuschauerraum - das Publikum sitzt auf der Bühne -, ist mit durchscheinenden Gazebahnen in mehreren Schichten verhängt. Frontal zum Betrachter wirft ein Projektor Videobilder auf die Gazebahnen, die diese unterschiedlich in Größe und Entfernung reflektieren und fragmentieren. Dadurch wird es fast unmöglich, Bilder zu erkennen; die Wahrnehmung erfasst nur eine Art Puzzle, Versatzstücke von Bildern, die aber nie irgendwie inhaltlich geordnet oder auch nur zum Thema gehörig erscheinen. Ein Tonband liefert getragene Elektronikklänge, die in fortschreitendem Maße von Klaviertönen und später Tonfolgen für Viola überdeckt werden.
Nach einiger Zeit erkennt man hinter der Gazewand im Gegenlicht eine Frauengestalt, die mit betont leiser neutraler Stimme eine Art Traumsequenz über das Fallen beschreibt. Das reflektierende Ich schläft offenbar und träumt seinen Fall aus dem Himmel in die Tiefe. Es beschreibt dabei seine körperlichen Wahrnehmungen und Gefühle in Erwartung des Aufpralles, d.h. die fast reale Wahrnehmung des Fallens bei gleichzeitigem Wissen darum, dass man schläft, träumt. Mit Licht-Bild-Ton-Veränderungen ändert sich auch der Text: jetzt ist das Ich fast sanft auf seinen Füßen gelandet und schreitet bergauf. Thema und alle Teile der Performance beginnen sich zu wandeln, es beginnt ein Oszillieren zwischen Aufstieg und Fall, Perspektiven und Zeit-Dimensionen werden immer unklarer, plötzlich taucht Hölderlin in seinem Turm auf, später Kafka, ein Engel ohne Kopf...
Das Phänomen des Fallens wird solange dekonstruiert, bis alle seine Teilelemente - Körper, Seele, Raum, Zeit, psychologische, physikalische Dimensionen - analysiert sind. Auch die Videoinstallation aus Versatzstücken hat dekonstruktiven Charakter und verhindert so ein "Einsehen" in oder Erklärung durch Bilder. Die Absicht, mit hoher Bild- und Blitzlichtfrequenz, Gleichförmigkeit von Klängen und Stimme dem Zuschauer sein Raum- und Zeitgefühl zu nehmen, misslang gründlich. Schon nach 20 von 120 Minuten hatten sich die meisten an Alternativen erinnert, und beispielsweise sich im Garten der Insektenoper von Gundermann / Neubert gewidmet, die neueste wissenschaftliche Erkenntnisse der Entomologen in ihr Projekt eingearbeitet haben. [...]