FOUR John Cage

Theater der Zeit, 02/2003

Streichereinheiten im Podewil

Der Raum ist schwarz und mit grau gestapelten Wänden so strukturiert, dass das Unsichtbare Geheimnis bleibt, sich die toten Winkel als Wesen auftürmen. So wird den Ohren der Weg gewiesen, gleichsam als Umkehrung einer Episode der Homerschen Odyssee, in welcher Odysseus sich Wachs in die Ohren goss, um dem Gesang der Sirenen zu widerstehen und seine ungewisse Reise fortsetzen zu können.
Die räumliche Umsetzung der Irrfahrt des Odysseus ist eine Ebene dieses Abends. Über Gibraltar soll er hinaus gelangt sein, das Schiff schlingerte durch die Straße von Messina bis ins Tyrrhenische Meer, weit weg von der Heimat Ithaka. In der Odyssee von Jörg Laue wird der Held zu einem anonymen, geschlechtslosen, polymorphen Irren im düsteren Moloch Berlin, dessen Topografie den Mittelmeerraum ersetzt. Auf die grauen Wände werden Videoschnipsel geworfen mit hastenden, unkenntlichen Menschen, Plattenbauten, rauchenden Schornsteinen, leeren U-Bahnhöfen, entsprechende Geräuschspuren ohne Anfang und Ende geben einem den Rest: Die Odyssee ist kein Abenteuer, sondern ein Alptraum, und Berlin ist noch unüberschaubarer und furchtbarer, als viele es schon immer befürchtet haben.
Wo Homers Odysseus seinen Weg gemacht haben mag, wissen wir ungefähr; sehr genau wissen wir, dass er zehn Jahre lang umher irrte. Eine zweite Ebene von Laues Reise in die Nacht ist die der Zeit. John Cage, Licht- und Schattengestalt von homerischer Größe für Generationen von Komponisten, ist hier der Herr im Ring. Er war vermutlich der erste Tonsetzer, der Zeit als Bedingung für Musik nicht allein begriff, sondern auch vollends umsetzte, in dem er ein klangloses Stück auf exakt 4 Minuten und 33 Sekunden festlegte oder ausdrücklich endlose Klangkombinationen notierte. So sehr Cages Musik für die Eingeweihten von immenser Bedeutung war und ist, so sehr bleibt sie aber auch für jegliches Auditorium schwer fasslich, einzig fühlbar. Zwei Werke, „Four" (1989) und „Four6" (1992) erklingen, und dabei bekommt der Abend doch Konturen, plötzlich wird das Vagierende der Odyssee nachvollziehbar. Es stellt sich heraus, dass die konkretisierenden Videoabbildungen mit den entsprechenden Texten ins Leere laufen, während Streichquartett-Klänge in ihrer scheinbaren Unbestimmtheit die Phantasie beflügeln und Räume öffnen. Dass man Cage an diesem Abend in seinen Intentionen folgen kann, ist einem dramaturgischen Kunstgriff geschuldet, dem besonderer Dank gebührt. Allem voran wird nämlich Joseph Haydns Streichquartett Nr. 1 (um 1760) gestellt, welches als Gründerwerk der Gattung gelten kann. Metrisch-rhythmisch leicht verständlich werden die einzelnen Stimmen harmonisch-dissonant eng zusammengeführt. Hier ist Ithaka noch in einer Ordnung. So unmittelbar nacheinander gespielt, ergeben Cages Klänge dann auch einen Sinn: Es sind gigantische Vergrößerungen des Alten, verbunden einzig durch die synchronen Uhren auf den Pulten der Musiker; Cage entpuppt sich als sensibler Rezipient bei der Übertragung des Gewesenen in ein Jetzt. So gesehen hat Jörg Laue ein spannendes Netz über die Irrfahrt des Odysseus geworfen. Die Fäden hält dabei – abgesehen von der diffizilen Klangregie Hans-Friedrich Bormanns – die LOSE COMBO in den Händen: Zart, ganz leise flechten sie die Stimmen bei Haydn, leicht könnte das Gewebe zerreißen; mit großer Ruhe und Präzision werfen sie die Seile aus, mit denen Cage die Welt zusammenhält. Das Spielen der LOSEn COMBO ist Streicheleinheit in finsteren Räumen, die Laue uns als Spiegel der Zeit vorstellt. Schon Homers Odysseus hatte eine exemplarische Seite, und so ist die Vervielfältigung des Helden ins Anonyme eine unbedingte Fortschreibung, mit Haydn und Cage eine Aktualisierung, die nicht das Bedauern der Umstände, sondern die Suche nach dem eigenen Ich betont und fordert. In diesem Sinne verhielt sich auch das Publikum still in der Vorweihnachtszeit.

Alexander Irmer