LAVINIAS SCHATTEN

Der Tagesspigel, 3.9.1995

Der sanfte Angriff auf die Sinne
"Lavinias Schatten" von Jörg Laue und Lose Combo im Künstlerhaus Bethanien

In Shakespeares "Titus Andronicus" wird die Heldentochter Lavinia auf grausame Weise ihrer Zunge beraubt. Dieses Motiv liegt der "Rauminstallation/Klangskulptur/Performance" von Jörg Laue zugrunde: Worte entwinden sich ihrer Bedeutungshaftigkeit und mutieren zu digitalisierten Tönen, verschwimmen mit Violinklängen zu eben jener "Klangskulptur".
Spielerisch fügen sich die zugrundegelegten Texte - "Lavinias Schatten" beziehungsweise "Thereus und Philomele" nach Ovids "Metamorphosen" - im folgenden einer weiteren Transformation: eine halbdurchsichtige Wand dicht nebeneinanderhängender Kupferseile fungiert als Video-Projektionsfläche und wird zum Übertragungsort der Klänge vom hörbaren ins visuelle Medium. In einem einzigen 60minütigen Schwenk gleitet der Blick zunächst von einem Wald zum gegenüberliegenden Ufer eines Flusses, um sich in dessen rasanter Bewegung schließlich zu verlieren.
Beliebig ist natürlich überhaupt nichts an diesem Szenario; die Partituren für die "Cluster-Komposition" entstammen selbst einem langwierigen Transformationsprozeß: Ein Satz aus "Lavinias Schatten" wurde von allen am Projekt beteiligten Personen niedergeschrieben, anschließend per Kopie auf eine einheitliche Länge gebracht, eingeschwärzt, wiederum mehrfach kopiert und gespiegelt; die entstandenen Graphien/Grafiken bildeten die Grundlage für den Sound. Anzumerken ist der Performance dieses reglementierte Moment nicht. Im Gegenteil: sie wirkt - unterstützt vom kirchenähnlichen Ambiente im Künstlerhaus Bethanien - fast meditativ. Nach anfänglicher Irritation beginnt der Kunstkonsument zu genießen, daß es nicht darauf ankommt, eine Botschaft zu entschlüsseln. Nuance für Nuance verschwimmt warmes Rotbraun in glitzerndes Silber - Nuance für Nuance verändert sich trotz instrumentalen Gleichklanges die Wahrnehmung. Oder umgekehrt: ein gleichbleibendes Bild wird akustisch neu unterlegt.
Diese "Angriffe auf die Sinne" bleiben aber ganz sanft - nur gegen Ende wird der Lauf des Flusses zweimal durch grelles Aufblitzen der kupfernen Installation gestört. Eine gut kalkulierte Attacke auf den entrückten Zuschauer, der der Sogwirkung der bewegten Bilder und der Kompositionen garantiert erlegen war.

Christine Wahl