MYTHOS EUROPA

Berliner Morgenpost, 17.10.1998

Kontinent der Träume
Zeitlos: Jörg Laues "Mythos Europa" im Theater am Halleschen Ufer

Muß alles einen Namen haben? Wer versucht, die Kunst Jörg Laues und der LOSE COMBO mit seinen Erfahrungen neuerer theatralischer, musikalischer und visueller Darstellungsformen abzugleichen, scheitert sogar am Begriff des Interdisziplinären.
"Mythos Europa" heißt das neue Werk der Gruppe, das jetzt im Theater am Halleschen Ufer seine Premiere hatte, ein in jeder Hinsicht gelungenes Beispiel für die künstlerische Denkweise des 34jährigen Komponisten, Autors, Bühnenbildners und Videokünstlers. Die in kurzen Texten angedeutete Geschichte von der Phönizierprinzessin Europa, die von den schönen Augen des weißen Stiers Zeus verlockt wird, auf seinem Rücken das Meer zu überqueren, ist nur der Ansatzpunkt der Inszenierung. Tatsächlich geht es um die sinnliche Struktur dieser Entführung an der Grenze des Bewußtseins. Die langgehaltenen Harmonien des Streichquartetts im Atemtempo der Schlafenden, die hinter die Musiker projizierten Irrfahrten zweier Videokameras, das Rauschen beim Absuchen der Radiowellen ergeben ein Gewebe von gedämpften Wahrnehmungen außerhalb der Zeit.
Reduktion und Transformation sind die Methoden, mit denen Jörg Laue sein Material fürs Gesamtkunstwerk verfügbar macht. Zur Komposition des Streichquartetts etwa zog der Bachliebhaber den zweistimmigen Oktavkanon aus der "Kunst der Fuge" heran, ersetzte jeden Einzelton durch einen dissonanten Zweiklang, entfernte das Tempo und dehnte das kurze Stück dabei auf 90 Minuten. So wie die Prinzessin Europa ihren Namen auf Kreta an den fremden Kontinent ihres Traums verliert, so geht die Idee der Polyphonie Bachs in die Gleichzeitigkeit der verschiedenen Medien über.
Die Aufführung umfaßt viel mehr Zeit, als sie dauert. Der Zuschauer wird zum Mitschöpfer seiner eigenen poetischen Wahrnehmungen und genießt den Abend umso mehr, als er sich auf die Langsamkeit einläßt. Bachs "Contrapunktus XIV", vom Quartett mit beseelter Ruhe und im richtigen Tempo gespielt, einige kräftigen Videostöße und Roy Orbisons Rock'n'Roll-Schlager "In Dreams" geleiten das Publikum sanft zurück in die Zeitlichkeit. Ein Abend von berührender Schönheit.

Matthias R. Entreß