MYTHOS EUROPA

Theater der Zeit, 11/12/1998

Bilderfluchten
Die Lose Combo/Jörg Laue im Berliner Theater am Halleschen Ufer

Schnell wird dem Zuschauer klar, daß es der Lose Combo/Jörg Laue auch mit "Mythos Europa" nicht um eine konventionelle Theateraufführung geht. In guter Tradition handelt es sich eher um ein sprechendes, tönendes Bild, das ganz der Dichte entspricht, die Malewitsch mit seinen weißen und schwarzen Quadraten für die Kunst der Moderne vorgab. Darstellende Kunst vermählt sich beeindruckend mit klassisch durchdrungener neuer Musik, mit Videokunst und Bildender Kunst, und etwas wie ein Gesamt-Klang-Bild entsteht.
Die Bühne ist beherrscht von zwei Videoprojektionsflächen, welche die eigentliche Spielfläche abgeben. Links von ihnen ist eine Gruppe Musiker postiert. Gelegentlich treten zwei Darsteller aus dem durchschimmernden Hintergrund vor die Projektionsfläche und geben dem bilddurchfluteten, unpersönlich ablaufenden Text wohltemperiert kaltanheimelnde Menschlichkeit und spröde-verlogene Authentizität. Tatsächlich dominieren sequentiell eingeschossene, elektronisch kommunizierte Leitbilder die Szenerie, keine der Macht, sondern der untergründigen, der abseitigen Geschichte, die sich stets selbst verleugnet und verlacht. Malewitsch tritt als Narr auf. Die Postmoderne überführt sich ihrer eigenen ideologischen Vorbelastung.
Geschichte ist Laue ein Trauma, ist wie jene Europa, die von Zeus vergewaltigt, ihre unruhige Ruhe erst findet, als sie, in ihrer Höhle erstickt, im Grabe liegt. Sie ist nicht geopfert worden. Sie hat nichts getan - im Leben nicht und auf der Streckbank der Götter nicht. Sie war nicht Kassandra. Sie hat geschlafen, um wach zu sein. Und dieser Schlaf ist unser Schicksal geworden, ist die Geschichte geworden.
Darsteller im Wortsinn treten nicht auf. Sie wären zu menschlich, als daß sie für eine Geschichte taugen würden, die längst keine Menschen mehr braucht, höchstens noch gebraucht. Doch trotz aller maschinellen Stringenz, trotz der elektronischen Unterjochungswucht der Bilder gelingt der Lose Combo - die einzig wirklich bemerkenswerte Fraktion aus dem Gießener Umfeld - eine ungeheure sinnliche Präsenz, die insgesamt die Technik vergessen läßt, die Technik und Theater, Neue Medien und Theater in einer Form verschmelzen läßt, die tatsächlich neue Zugänge zum alten Medium eröffnet. Bilder, Klänge und Satzfetzen vereinen sich zu einer unheimlich dichten, bedrohlichen Symphonie. Man torkelt in einer Art Wachtraum umher - ein erholsam anstrengender Abend, der etwas von Tod und Wiederentdeckung, von Rückeroberung des Lebens hat.

Mario Stumpfe